(Deutsch) VVP (1)

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Ralf Schüler

Methodische Untersuchungen und Modellbetrachtungen zur Venen-Verschluß-Plethysmographie

42. Internationales Wissenschaftliches Kolloquium TU Ilmenau 1997,
Band 2 S. 85ff.

Venenerkrankungen der unteren Extremitäten sind sehr weit verbreitet und nehmen tendentiell immer mehr zu. Deshalb kommt einer möglichst frühzeitigen Erkennung und Behandlung solcher Erkrankungen eine große Bedeutung zu. Nur bei rechtzeitiger Diagnose können irreversible Folgeschäden verhindert und ein chronischer Krankheitsverlauf verzögert bzw. gemildert werden. Die Verfügbarkeit einer geeigneten, einfachen und nichtinvasiven diagnostischen Methode ist eine wichtige Voraussetzung für eine schnelle Diagnose und zur Beobachtung des Krankheitsverlaufs. Erst dadurch sind Screening-Untersuchungen möglich, die längerfristig gesehen zu erheblichen Einsparungen im Gesundheitswesen führen können.


Abb. 1: Prinzip der Venen-Verschluß-Plethysmographie (VVP)

Die Venen-Verschluß-Plethysmographie (VVP) erfüllt diese Anforderungen und hat sich bereits seit vielen Jahren in der Thrombosediagnostik bewährt ist. Das Meßprinzip ist in Abbildung 1 dargestellt. Der Patient wird auf einer Liege mit erhöhten Beinen gelagert. Durch die hydrostatische Druckdifferenz entleeren sich die Beinvenen. Am Oberschenkel wird eine Staumanschette angelegt und zu Beginn der Messung auf einen Staudruck aufgepumpt, bei dem die Venen okkludiert werden, aber der arterielle Zustrom aufgrund des höheren arteriellen Druckes zunächst weiter ungehindert erfolgen kann. Im Ergebnis füllen sich die Venen mit Blut. Nach einigen Minuten werden die Staumanschetten schnell entlüftet, so daß das angestaute Blut schnell abfließen kann. Während dieses Vorganges wird mittels eines geeigneten Verfahrens die Veränderung der Blutmenge im Unterschenkel aufgezeichnet und diagnostisch bewertet. Ein typischer Kurvenverlauf ist in Abbildung 2 zu sehen.


Abb. 2: Typischer Verlauf des gemessenen Blutvolumens im Unterschenkel

Nach dem Aufpumpen der Staumanschette beginnt die Stauphase, wobei ein sofortiger Anstieg des Blutvolumens im Unterschenkel zu beobachten ist. Die Füllung erfolgt zunächst nahezu linear. Nach einiger Zeit wird der Anstieg geringer, und es beginnt sich ein Plateaus auszubilden. Dieses resultiert einerseits aus einer Behinderung des arteriellen Zuflusses und andererseits aus dem Wiedereinsetzen des venösen Abflusses. Letzteres ist möglich, da der Venendruck inzwischen groß genug geworden ist, um die Okklusion durch die Staumanschette zu überwinden. Bezogen auf den Ausgangszustand bildet sich ein Gleichgewicht, das als diagnostisch wertvoller Parameter genutz und als venöse Kapazität bezeichnet wird. Diese ist beispielsweise bei Thrombosen oder Phlebosklerosen erniedrigt und bei Varikosis erhöht. Die Occlusion der Venen wird durch ein sehr schnelles entlüften der Staumanschetten beendet, damit das angestaute Blut wieder ungehindert abfließen kann. Ist der Abfluß verlangsamt, so kann daraus auf ein Abflußhindernis – meist eine Thrombose (Verschluß einer Vene durch ein Blutgerinnsel) – geschlossen werden.

Stand der Technik und Problemstellung

Zur Erfassung des Blutvolumens am Unterschenkel sind verschiedene Methoden bekannt. In der Praxis oft angewendete Verfahren sind die Impedanz-Plethysmographie und die Dehnungsmeßstreifen-Plethysmographie. Die bisher dazu verwendete Gerätetechnik basiert zum großen Teil auf einer manuellen Steuerung des Untersuchungsablaufs und einer sehr einfachen Kurvenauswertung. Dementsprechend sind die Untersuchungen aufwendig und beinhalten potentielle Fehlerquellen was die Akzeptanz des Verfahrens trotz der vorhanden diagnostischen Möglichkeiten einschränkt.

Eine computergesteuerter Untersuchungsablauf und eine automatische Kurvenauswertung eröffnet hier neue Möglichkeiten, die zur Verbesserung der Anwendbarkeit des Verfahrens und zur Erhöhung der diagnostischen Aussagekraft beitragen können.

Mit dem Meßsystem rheoscreen wurde für die VVP eine hochauflösende computergesteuerte Meßtechnik auf impedanz-plethysmographischer Basis geschaffen. Die mit dem System durchgeführten Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daß die Verbesserung der Meßtechnik allein noch nicht zu einer wesentlich besseren diagnostischen Treffsicherheit führt. Im wesentlichen sind dafür folgende Gründe verantwortlich:

  • Alle bisher üblichen Varianten der VVP ermöglichten trotz hoher Meßgenauigkeit nur eine unbefriedigende Reproduzierbarkeit der Meßergebnisse. Demzufolge ist die Ursache dafür in der Art der Durchführung der Untersuchung und der großen physiologische Variabilität des Meßobjekts zu suchen.
  • Die mit der empfindlichen Meßtechnik aufgezeichneten Signale lassen erkennen, daß im Kurvenverlauf mehr Informationen enthalten sind, als bisher genutzt wurden. Um diese Merkmale für die praktische Diagnostik nutzbar zu machen, muß deren Bezug zu entsprechenden physiologischen Prozessen ermittelt und die Untersuchungstechnologie entsprechend optimiert werden.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die bisher angewendeten Untersuchungsabläufe uneinheitlich sind und außerdem nicht mehr den neuen Möglichkeiten moderner Medizintechnik entsprechen. Zur Weiterentwicklung dieses wichtigen Verfahrens der apparativen Diagnostik besteht demzufolge notwendig, die Untersuchungsmethodik qualitativ zu verbessern und standardi sierte Untersuchungsabläufe einzuführen, da nur so vergleichbare Meßergbenisse und damit eine bessere Diagnostik gewährleistet werden kann.

Lösungsansatz

Aufgrund der Komplexität der in den Extremitäten stattfinden physiologischen Prozesse und der verketteten vaskulären Regelungsvorgänge wurde von einer experimentellen Herangehensweise Abstand genommen.

Ausgehend von einer gründlichen Analyse der physiologischen und pathophysiologischen Vorgänge wurde ein mathematisches Modell entwickelt, das die wesentlichen Zusämmenhänge der Blutumverteilungsvorgänge während der VVP widerspiegelt. Zur Bestimmung einzelner Modellparameter konnte auf entsprechende Literaturangaben zurückgegriffen werden /1, 2, 3/, andere Paraneter wurden experimentell ermittelt.

Mit der mathematischen Modellierung wurden in erster Linie folgende Ziele verfolgt:

  • Durch eine detailierte Darstellung der physiologischen Zusammenhänge und ihrer Wechselwirkungen sollen wichtige Voraussetzung zum Verständnis der diagnostischen Möglichkeiten des Verfahrens geschaffen werden, wobei die Übereinstimmung des Modelles mit realen Messungen zu einem besseren Verständnis der ablaufenden physiologischen Prozesse beitragen kann.
  • Eine Beschreibung des Zustandes des venösen Systems anhand von verschiedenen physiologischen Kenngrößen, wie z.B. Strömungswiderstand und Compliance. Auf der Grundlage des Modells soll die Bestimmung dieser Kenngrößen optimiert werden.
  • Mit Hilfe der Darstellung der Abhängigkeiten verschiedener Parameter von der Untersuchungsmethodik sollen die einzelnen Unterschungsabläufe hinsichtlich ihrer diagnostischen Aussagekraft und Fehlertoleranz optimiert und danach standardisiert werden.
  • Durch die Untersuchung verschiedener Meßanordnungen und die Einbeziehung spezieller anatomischer Gegebenheiten soll die diagnostische Wertigkeit des Verfahrens für bestimmte Erkrankungen analysisiert werden, um so ggf. die Einsatzmöglichkeiten zu erweitern. So soll z.B. die Frage geklärt werden, ob Unterschenkelthrombosen mit einer veränderten Meßanordnung besser zu erfassen wären.
  • Das Modell soll den möglichen Einfluß von autoregulatorischen Vorgängen auf die Meßergebnisse deutlich machen. Durch die zur Verfügung stehende hochempfindliche Meßtechnik werden erstmals physiologische Effekte bei der VVP sichtbar, die bisher nicht bekannt waren und zu einem besseren Verständnis der ablaufenden Prozesse beitragen. Diese Regulationsvorhänge können zusätzliche diagnostische Informationen liefern, aber unter Umständen auch die traditionelle Kurvenauswertung stören.

Modellaufbau

Das mathematische Modell soll folgende physiologische Gegebenheiten widerspiegeln:

  • Die Venen sind elastische Gefäße, die sich in Abhängigkeit vom Venendruck dehnen und bei negativem Venendruck, wie er z.B. durch die hydrostatische Komponente bei Hochlagerung entsteht, okkludieren. Die Dehnungsfähigkeit ist dabei nichtlinear und von der Vordehnung der Gefäße abhängig. Der Strömungswiderstand der Venen variiert aufgrund der Querschnittsänderung mit deren Dehnung bzw. Okklusion.
  • Der arterielle Zustrom erfolgt gleichmäßig und kontinuierlich über das ganze Bein, so daß in jedem betrachteten Abschnitt ein entsprechender arterieller Zustrom angenommen wird. Dieser ist abhängig von der arterio-venösen Druckdifferenz und somit direkt vom momentanen Venendruck.
  • Das Venensystem setzt sich aus Venen zusammen, die eine Transportfunktion entlang des Beines erfüllen, und aus Venen, die vorwiegend zur Blutspeicherung bzw. zur Zusammenführung des Blutes aus den einzelnen Gewebeabschnitten dienen. Letzteres ist allerdings für das Modell nicht von Bedeutung.
  • Es wird sowohl die Viskosität als auch die Massenträgheit des Blutes berücksichtigt.


Abb. 3: Modellprinzip

Die einzelnen Abstraktionsstufen des Modelles sind in Abbildung 3 dargestellt. Dabei wird das Bein als Aneinanderreihung einzelner schmaler “Beinscheiben” betrachtet, die alle einheitlich aufgebaut sind. Die anatomisch-physiologischen Kenngrößen der einzelnen Scheiben sind von deren Position abhängig. Am Oberschenkel ist deren Durchmesser größer als in der Unterschenkelregion. Jede der einzelnen Modellscheiben ist gekennzeichnet durch den dort jeweils herrschenden Venendruck, das in den Venen gespeicherte Blutvolumen, den venösen Strömungswiderstand, den peripheren Widerstand und den arteriellen Mitteldruck. Zwischen diesen Größen herrschen multiple Abhängigkeiten, so daß das mathematische Gleichungssystem nicht analytisch auflösbar ist. Deshalb wurde eine numerische Lösungsvariante realisiert.

Zur Betrachtung der diagnostischen Möglichkeiten wurden weiterhin verschiedene Formen der Thrombose als lokale und vom Venendruck abhängige Erhöhung des venösen Strömungswiderstandes betrachtet, wobei Wert auf eine möglichst genaue Nachbildung der echten pathophysiologischen Vorgänge gelegt wurde.

Nicht berücksichtigt wurden die unterschiedlichen anatomischen Verhältnisse bezüglich der Muskelverteilung am Unterschenkel. Dies wäre zwar mit dem geschaffenen Modell ohne weiteres möglich, hätte aber die Aussagefähigkeit des Modelles für den Vergleich zwischen verschiedenen Meßorten eingeschränkt.

Auf der Grundlage des beschriebenen Modells wurden zunächst die sich einstellenden stabilen Gleichgewichte (Lage der Plateaus) bestimmt. Danach wurden die diagnostisch bedeutenden dynamischen Parameter der Abstromphase (siehe auch Abbildung 2) berechnet.

Ergebnisse


Abb. 4: Typische gemessene Kurve mit der beschriebenen Diskontinuität (Pfeil) im venösen Abstrom

Mit Hilfe der hochempfindlichen Meßtechnik können Regulationsprozesse reproduzierbar beobachtet werden, die vorher nicht beachtet wurden. Ein solcher Effekt ist in Abbildung 4 dargestellt. Bei Messungen an muskelreichen Abschnitten ist in der Abflußkurve häufig die mit einem Pfeil gekennzeichnete Diskontinuität zu finden. Diese äußert sich in einem vorübergehenden Abflachen des Ausstromes bzw. in extremen Fällen in einer kurzen Volumenzunahme, die zeitlich regelmäßig ca. 8..15 s nach dem Öffnen des Staues auftritt. Kurz danach erfolgt wieder ein stärkerer Ausstrom bis zum Erreichen eines stabilen Pegels.

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